20. juni
die minuten davor
Die Ampel wechselt auf grün. Die Menschen überqueren die breite Strasse und laufen zu den Bushaltestellen. Es ist halb sechs Uhr. Die meisten haben Feierabend. Ralf Wurm nicht. Ralf Wurm hat heute noch einen Termin: sein Verein hat GV. Dorthin ist er unterwegs. Ralf Wurm geht mit dem Strom. Er nimmt kaum wahr, was um ihn geschieht. Er ist tief in Gedanken versunken. Seine Gedanken umkreisen ein Problem, zu dem ihm keine passende Lösung einfällt. Er ärgert sich gewaltig. Das kommt nicht oft vor. Denn sonst gibt sich Ralf Wurm immer Mühe, pragmatisch und offen zu sein. Doch jetzt klappt das nicht. Das Problem nimmt ihn völlig ein. Die vielen Menschen, unter ihnen Ralf Wurm, steigen in die vielen roten Busse ein. Kaum ist er die kleine Stufe hochgestiegen, schliesst sich die automatische Türe und der Bus fährt los. Ein Ruck geht durch den Wagen, das lässt Ralf Wurm aufblicken. Sofort merkt er, dass er in die falsche Richtung fährt. „Scheisse, auch das noch“. Bei der nächsten Station steigt er aus, überquert die stark befahrene Strasse und wartet auf der anderen Seite auf einen Bus, der in die entgegen gesetzte Richtung fährt. Seit dem Telefongespräch mit Konrad Unterboden läuft aber auch alles schief.
Unterdessen fährt Rahel Lockererde mit dem Fahrrad die Strasse von zuhause an den Fluss hinunter. Von dort aus wird sie zur GV radeln. Im Vergleich zu Ralf Wurm ist sie gut gelaunt. Kein Wunder, sie hat heute auch nicht mit Konrad Unterboden telefoniert. Rahel Lockererde ist wie Konrad Unterboden seit drei Tagen informiert und deshalb auf alles vorbereitet. Rahel Lockererde ist sich sicher, dass Ralf Wurm schlecht gelaunt an der GV erscheinen wird, denn sie vermutet bereits, dass Konrad Unterboden es nicht hat lassen können, Ralf Wurm über die bevorstehenden Wechsel im Verein und über seine eigene Vorhaben zu informieren. Eigentlich war abgemacht, alles erst an der GV zu verkünden. Doch Rahel Lockererde kennt Konrad Unterboden. Konrad Unterboden kann so etwas unmöglich bis zur GV für sich behalten.
Im Zimmer, in dem die GV stattfinden wird, ist bereits alles eingerichtet. Peter Imberg knippst den Hellraumprojektor wieder aus. Für ihn ist dies Routine. Und dennoch wird es heute eine spezielle Versammlung. Heute wird Peter Imberg seinen Rücktritt aus der chthonisch juvenalischen Bagasse bekannt geben. Den Vorstand hat er bereits vor drei Tagen, an einer Vorbereitungssitzung informiert. Seit sechszehn Jahren ist er Präsident des Vereins. Er sieht den Zeitpunkt gekommen, um den Hut zu nehmen. Sein Beruf, sein Privatleben und seine anderen Interessen sind für ihn wichtiger geworden, so hat er es an der Vorbereitungssitzung begründet. Peter Imberg nimmt sich einen Stuhl und setzt sich an die grosse Fensterfront. Nun wartet er im Zimmer auf die Vereinsmitglieder, trinkt ein paar Schlücke süsses Torfwasser, das er für alle bereitgestellt hat und denkt an die bald anstehenden Sommerferien.
|